Gewalt in der Pflege
In den Medien ist das Thema „Gewalt in der Pflege“ stets präsent, allerdings haben in den dort thematisierten Fällen die Pflegenden Gewalt bis hin zu Tötungen an Patienten/Pflegebedürftigen vorgenommen. Die Gewalt, die von den Patienten an Pflegekräften ausgeübt wird, tritt dabei oft in den Hintergrund. Dabei ist dies ein genauso sensibles Thema in der Pflege, welches leider oft bagatellisiert wird.
Eine Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtpflege (BGW) und des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf (UKE) aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass in den letzten 12 Monaten 40% der Pflegenden in der ambulanten Pflege körperlicher Gewalt, 78% verbaler Gewalt und 12% sexueller Belästigung ausgesetzt waren. Pflegende in Krankenhäusern (56%) und stationären Pflegeeinrichtungen (63%) sind sogar noch häufiger von körperlicher Gewalt betroffen. Die Ursachen von Gewalt an Pflegenden liegt häufig in einer Krankheit des Pflegebedürftigen (z. B. Demenz), Nebenwirkungen von Medikamenten oder dem ungewohnten Gefühl der Abhängigkeit von Hilfe und Unterstützung anderer Menschen, was zu Frustration und Ablehnung führen kann.
Was ist Gewalt? Nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gewalt:
„Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“
Die Erscheinungsformen von Gewalt sind dabei vielseitig, meist tritt sie als körperliche, verbale und nonverbale Ausschreitung auf. Körperlich ist Gewalt geprägt durch Schläge, Tritte, Bisse, Bespucken, an den Haaren ziehen oder „grabschen“ als sexuellen Übergriff. Verbal und nonverbal zeigt sich Gewalt unter anderem durch Verweigerung der Kommunikation, Beleidigungen oder Drohungen. Hinzu kommt oft, dass den Pflegenden ihre Arbeit bewusst erschwert wird, indem beispielsweise absichtlich eingekotet oder Mithilfe bei der Grundpflege verweigert wird.
Strafrechtliche Betrachtung:
Den Pflegebedürftigen ist oft nicht bewusst, dass durch Ihre Ausschreitungen mitunter Straftaten vorliegen.
Insbesondere kommen folgende Straftaten in Betracht:
• Körperverletzung § 223 StGB
• Beleidigung § 185 StGB
• Nötigung § 240 StGB
• Sexuelle Belästigung § 184i StGB
Welche Situationen können gewalttätige Handlungen von Pflegebedürftigen auslösen?
Nahezu bei jeder pflegerischen Handlung können Situationen entstehen, die einen Pflegebedürftigen zu einer Gewalttat animieren. Darunter können Umgangsformen wie abfällige Äußerungen, verkindlichende Ansprache oder auch eine Unterhaltung mit einer dritten Person über den Kopf des Pflegebedürftigen hinweg fallen. Aber auch im Rahmen der Mobilität, wenn beispielsweise freiheitsentziehende Maßnahmen eingesetzt werden, der Pflegebedürftige gegen seinen Willen mobilisiert oder die Unterstützung bei der Bewegung als grob, ruckartig oder zu schnell empfunden wird, kann eine gewalttätige Handlung des Pflegebedürftigen die Folge sein. Darüber hinaus erzeugen gerade ungewollte Handlungen im Bereich der Körperpflege einen Groll bei dem Pflegebedürftigen. Dieser wehrt sich beispielsweise gegen das Schneiden der Fingernägel oder dem Rasieren des Bartes, die zu heiße oder zu kalte Wassertemperatur des Bades oder das nach seinem Empfinden unzureichende Abtrocknen. Des Weiteren sind Ursachen von Gewalt an Pflegenden in den Aspekten der Ernährung (z. B. Anwendung von Lätzchen, zu hastiges Anreichen der Nahrung), der Ausscheidung (z. B. Zwang zur Verwendung von Inkontinenzhosen) oder der Bekleidung (z. B. ungewolltes Anziehen von bestimmten Kleidungsstücken) zu finden.
Wie können Pflegende Gewalt vorbeugen?
Um es gar nicht erst zu gewalttätigem Verhalten der Pflegebedürftigen kommen zu lassen und die Folgen von gewalttätigem Verhalten zu mindern, ist es ratsam, sich im Vorfeld mit potentiellen Risiken und den korrekten Gegenmaßnahmen auseinanderzusetzen. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber das Thema nicht tabuisiert, so dass ein offener Austausch stattfinden kann. Empfehlenswert ist auch, einen festen internen Ansprechpartner für Fragen zu diesem Thema zu benennen und ein Krisenund Beschwerdemanagement aufzubauen.
Das Verhalten von Pflegenden spielt zudem eine zentrale Rolle, damit die Situation gar nicht erst eskaliert. Das erste Mittel der Wahl der Pflegekraft in einer kritischen Situation ist dabei nicht die Flucht aus dieser Situation. Pflegende sollten zunächst dafür sorgen, das Verletzungsrisiko auf beiden Seiten so gering wie möglich zu halten. Gegenstände, die zum Schlagen oder Werfen verwendet werden könnten, sollten in ruhigen Bewegungen außer Reichweite gebracht werden. Dem angespannten Pflegebedürftigen ist mit Respekt, Aufrichtigkeit und Empathie zu begegnen.
Darüber hinaus ist eine ruhige und angemessene Sprech-Lautstärke von Bedeutung. Durch mehrmalig tief Ein- und Ausatmen können Pflegende die eigene Anspannung reduzieren und gleichzeitig versuchen den Pflegebedürftigen von der Situation abzulenken, indem die Aufmerksamkeit beispielsweise auf ein anderes Ereignis gerichtet wird. Generell sollten keine Drohungen ausgesprochen, Diskussionen, Ironie und Sarkasmus unterlassen sowie nicht auf das eigene Recht bestanden werden.
Was tun, wenn es dennoch zu Gewalt gekommen ist?
Auch die beste Prävention kann nicht zu 100% vor Gewaltanwendungen der Pflegebedürftigen schützen. Daher ist es wichtig, einen Umgang mit erlebter Gewalt festzulegen. Der Umgang mit Gewalt sollte offen und wertfrei gestaltet werden, keinesfalls sollte das Verhalten von Pflegebedürftigen heruntergespielt werden. Erfolgte Angriffe eines Pflegebedürftigen sind diesem gegenüber offen zu kommunizieren, sofern der Pflegebedürftige in der Lage ist, sein Verhalten bewusst zu steuern. Bei kognitiv beeinträchtigten Pflegebedürftigen kann hingegen nicht mit einer Änderung des Verhaltens gerechnet werden, da diesen Personen die Einsicht eines Fehlverhaltens fehlt.
Bei diesen Personen ist es daher besonders wichtig, gewaltauslösende Situationen vorzubeugen. Auch nach der Gewaltsituation muss im Pflegedienst das Thema offen und neutral angesprochen werden können, um zukünftigen Gefahrensituationen vorzubeugen und die betroffenen Mitarbeiter bei der Verarbeitung des Erlebten zu unterstützen.
Zumeist liegt der Grund für den Übergriff nicht in der Person der Pflegenden. Sie sollten den Vorfall daher nicht persönlich nehmen, sondern versuchen, rational nach den Gründen für das Verhalten des Pflegebedürftigen zu forschen. Dabei erscheint es ratsam, das eigene Verhalten auf potenzielle Auslöser für den Übergriff zu überprüfen. Sinnvoll ist es, alle kritischen oder akuten Situationen nachvollziehbar zu dokumentieren. Auch wenn kein körperlicher Schaden durch die Gewalttat entstanden ist, können trotzdem psychische Spätfolgen auftreten. Wenn mit einer Arbeitsunfähigkeit des physisch oder psychisch Verletzten zu rechnen ist, dann hat dieser einen Durchgangsarzt aufzusuchen. Eine ärztliche Konsultation ist ratsam, um unmittelbare Beratung oder Rehabilitation einleiten zu können.
Hat eine Pflegekraft Gewalt erfahren, ist dies bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) als Arbeitsunfall zu melden, wenn der Arbeitsunfall eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Kalendertagen oder den Tod von Versicherten zur Folge hat. Diese Unfallanzeige muss binnen drei Tagen nach dem Gewaltereignis erstattet werden.
Kann der Pflegevertrag nach einer Gewaltanwendung des Pflegebedürftigen gekündigt werden?
Das kommt immer auf den jeweiligen Einzelfall an. Grundsätzlich ist eine ordentliche Kündigung des Pflegebedürftigen immer möglich. In diesem Fall ist auf eine angemessene Kündigungsfrist zu achten, so dass der Pflegebedürftige die Möglichkeit hat, sich einen anderen Pflegedienst zu suchen und sich von diesen versorgen zu lassen. Um dies zu gewährleisten, ist es ratsam eine Frist von 4 Wochen zum Monatsende in den entsprechenden Pflegeverträgen zu vereinbaren.
Eine außerordentliche Kündigung ist darüber hinaus nur dann zulässig, wenn an dem Vertrag mit dem Pflegebedürftigen nicht mehr festgehalten werden kann. Das ist dann der Fall, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen dem betreffenden Pflegebedürftigen und dem Pflegedienst nachhaltig zerstört ist, sodass dem Pflegedienst nach einer Abwägung der gegenseitigen Interessen nicht zugemutet werden kann, den Pflegebedürftigen bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu versorgen. Ist die weitere Versorgung dem Pflegedienst nach Abwägung aller Umstände unzumutbar, dann kann dem betreffenden Pflegebedürftigen ohne Einhaltung einer Frist gekündigt werden.
Wichtig: Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Diese Frist beginnt zu laufen, sobald von den Tatsachen, die die Kündigung begründen, Kenntnis erlangt wurde.
Für alle Kündigungen des Pflegevertrages gilt:
Eine Kündigung hat immer schriftlich zu erfolgen. Ein Telefax oder eine E-Mail reichen nicht aus. Hinzukommt, dass die Kündigungserklärung dem Pflegebedürftigen zugehen muss. Es ist daher ratsam, sich davon zu überzeugen, dass der Klient die Kündigung erhält. Dies kann dadurch geschehen, dass die Kündigung unter Zeugen persönlich übergeben wird oder dass die Kündigung per Einschreiben mit Rückschein versandt wird. Achtung: Lediglich der Pflegedienst ist bei der ordentlichen Kündigung des Pflegevertrages an eine Frist gebunden. Der Pflegebedürftige kann jederzeit nach § 120 Abs. 2 Satz 2 SGB XI ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist den Vertrag mit dem Pflegedienst kündigen.
Vertiefende Informationen zum Thema finden Sie unter: http://www.pflege-gewalt.de/index.html
Dr. Christian Schieder
Arbeitgeber- und BerufsVerband Privater Pflege e.V. Hannover
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Kundenmagazin up date 03/2020
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